Oberfläche und Oberflächlichkeit 2
Oberfläche und Oberflächlichkeit 2
Zur Ideologie des Schalensitzes
von Diego Castro
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Jeder kennt es: auf einer Fahrt in einem 2.Klasse-Abteil eines Regionalzugs, z.B. nach Leipzig, ist der Reisende rundum unbequemen Sitzen konfrontiert: Zu dünn die Polsterung, zu hoch der Sitz, zu steil die Lehne und die Sitzfläche weist eine Neigung auf, die einen dazu zwingt, die Beine stützend auf den Boden zu drücken. Hierbei erfordert es die Statik, die Unmöglichkeit, sich in den Sitz hinein zu drücken, sich mit anständig geschlossenen Knien wie eine Klosterschülerin, in einer ebenso sittsamen wie unnatürlich Position zu verharren, immerhin quälende zweieinhalb Stunden Fahrtzeit, an deren Ende man sich vorkommt, wie ein mit Kabelbindern gefesselter Abschiebehäftling auf einem etwas verspäteten Lufthansa-Flug nach Mogadischu.
Meine ideale Version eines Fahrtsessels ähnelt einem Astronautensitz. Daher versuche ich auf langen Reisen -ganz instinktiv- den kuscheligen Fahrkomfort, der besonderen Menschen wie z.B. Ulf Merbold zugesprochen wird, durch Improvisation zu erreichen. Der Versuch, eine astronautisch - bequeme Stellung einzunehmen, indem man die Knie an den Vordersitz anlehnt, scheitert an zweierlei: sind die Beine lang genug, was bei meinem mediterranen Wuchs schon zum ersten Problem werden kann, gleiten am eisern-teutonisch eingeschalten Vordersitz die weichen Knie hinab. Zweitens verhaken sich besagte Knochengelenke in dem mehr oder weniger einzigen scharfen Winkel, den das Interieur des Zuges im Benutzungsbereich preisgibt. Die stählerne Kante, auf der das angewinkelte Bein nun ruhen möchte, schneidet sich ermahnend in das menschliche Knie und fordert: Sitzdisziplin!
Nächster Versuch über die Bequemlichkeit: den Ellenbogen zum Abstützen des ruhenden Kopfes auf der Seitenlehne abstützen. Ebenfalls Fehlanzeige! Zu niedrig die Lehne und eine kleine, fast unmerkliche Neigung des einzig Sinn machenden Winkels, nämlich des rechten, um ca. 4-7° lässt den Ellenbogen hinab schnellen. Es folgt die Fensterbank. Noch in den 1980er Jahren konnte man im InterCity, D-Zug, selbst in der S-Bahn den Ellenbogen ganz wunderbar in den kleinen Fenstersims lehnen, das Köpfchen in den Arm legen und schlummern, während der Zug sich durch deutsche Landschaften gräbt. Heutzutage sind all diese Kanten durch geschätze 47° Winkel unbenutzbar. Wieder haben wir es mit abweisenden Oberflächen zu tun.
Zum einen kommen hydrophobe Oberflächen im öffentlichen Bereich immer mehr zum Einsatz. Sie sind schmutzabweisend. Das hört sich hygienisch an, ist es aber nicht wirklich. Denn hier wird nicht nur an Feuchtreinigungsmitteln gespart, sondern es werden auch Putzstunden, es werden Arbeitsplätze abgebaut, bis es stinkt! Die sich selbst regulierende Oberfläche ist also aktiviert. Sie arbeitet anstelle der Putzkraft. So kann der türkische Putzmann, dem Schalensitz regelrecht dabei zuschauen, wie dieser ihm den Arbeitsplatz wegnimmt. Doch wer denkt schon so bildlich über den Arbeits-Platz.
Die Arbeitsethik der sich selbst regulierenden Oberfläche ist strikt neoliberal: Sie reinigt sich selbst, bzw. hilft sie, dem Benutzer durch ihre abweisende Architektur, sich selbst zu regulieren: Strammsitzen! Darüber hinaus schafft sie Zustände, die einen kreativen Umgang oder überhaupt eine Interaktion mit den gegeben Verhältnissen erschweren. Schalensitze erlauben das Liegen nicht, mit Werbebildern gerasterte Klebefolien behindern die Durchsicht aus dem Tramfenster und halten den vermeintlichen Fensterkratzer davon ab, das zu tun, was die BVG durch ihre Klebefolien eigentlich auch macht: die schöne Aussicht vermiesen. Und was ist eine Zugfahrt, eine Tramfahrt, in der man sich durch Stadt und Land kutschieren lässt, für ein Erlebnis, wenn man nicht aus dem Fenster gucken darf? Möglicherweise ist es in Zeiten galoppierender mitteleuropäischer Arbeitslosenquoten geschickt gedacht, z.B. das S-Bahnfahren um des reinen Vergnügens willen zu unterbinden.
Ein sich verschlankender öffentlicher Verkehrsbetrieb könnte die Personalmittel aufbringen für erhöhte Taktzeiten, hervorgerufen durch einen Massenandrang von vergnügungssüchtigen Arbeitslosen, die nicht nur am Sonntag, sondern auch Werktags die Fensterplätze der Berliner Ringbahn besetzen und hartnäckig eine dreistündige dreifache Umkreisung der Stadt aussitzen und dabei mit ihrem Sitzfleisch die Sitze und mit ihrer Glotzerei die Aussicht abnutzen. Doch das Gespenst der Nutzlosigkeit hat nicht nur den depressiven Frühstrentner in Petto. Auch die Jugendarbeitslosigkeit fordert ihren Tribut an die Oberfläche, in die sich der Vorstadt-Gangsta mit schlechter Employability-Prognose einzutragen versucht, als wolle er sich aus der eigenen Bedeutungslosigkeit kritzeln. Aberwitzig hässliche Anti-Graffitti Muster, sollen den Edding schwingenden Schmierfinken entmutigen. Seine Einschreibung soll durch kontrastreiche Muster im rotblaugrauschwarzen Camouflagemuster so offensichtlich unsichtbar gemacht werden, dass der junge, vermeintliche Vandale das Handtuch wirft, noch bevor es zur Sache geht: Sich in die Welt einzuschreiben.
Was ist der Unterschied zwischen einem Stück Papier und einem Touchscreen? In das Papier kratzt die Feder eine Furche, in welche die Tinte läuft. Die Schreibmaschine hackt in das Papier und hinterlässt in den Ausstanzungen einen dynamischen Abrieb des Kohlebands. Am Anschlag der Schreibmaschine, am Druck der Feder oder des Bleistifts ließe sich sehr viel ablesen, was über die bloße Annotation der Symbole und ihrer Zusammenhänge hinausginge. In dem Moment, in dem der Benutzer in das Medium eindringt, sprechen wir oft von einer Handschrift. In der Kunstgeschichte wird diese besonders gewürdigt und wertgeschätzt. Sie verspricht der Einzigartigkeit, die über die inhärenten Qualitäten der Reproduktion hinausragt, unerreichbare Ferne, so nah das Erzeugnis auch sein mag. Nicht so in der Welt der Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien, der postfordistischen Architektur und spätkapitalistischen Oberflächendesigns.
Ein Charakteristikum dieses Wandels ist, dass sich im Gegensatz zur alten Medienrealität der Benutzer nicht mehr in das Medium einschreiben soll oder gar darf. Vielmehr soll er sich den medialen Gegebenheiten fügen. Die Einschreibung indes ist fremdbestimmt, denn auf Benutzerprotokolle übt er zunächst keinen Einfluss aus und ist den Kontrollmechanismen des Cyberspace voll unterworfen. Nicht nur soll die Einschreibung und so die nachhaltige Sichtbarkeit des Benutzers, in Form von Gebrauchsspuren, Beschmutzungen, Kratzen, Kritzeln, Meißelarbeiten auf Gesetzestafeln und dergleichen unsichtbar werden. Auch die Verweilzeiten beim Spaziergang durch den virtuellen Raum sollen sich verkürzen und seine Bewegungsmöglichkeiten subtil eingeschränkt werden. Während der Finger über den Touchscreen wedelt oder aber wenn ein Mensch mit viel Zeit, zum Beispiel ein Arbeitsloser, der vielleicht nach einem Ort zum verweilen auf einer öffentliche Parkbank sucht, geschieht eines: Der Benutzer wird stets unruhig, in Aktion gehalten, in ständiger Bereitschaft, sich weiter zu bewegen. Ob hierzu nun polizeiliche Mittel notwendig werden oder der Benutzer in vorauseilendem Gehorsam sich in den vorgegebenen Bahnen bewegt ist im Endeffekt einerlei. Allerdings ist das Bild eines des Platzes Verwiesenen, der sich willfährig der Intervention des privaten Wachdienstes fügt, ohne auf sein Recht zu beharren, den öffentlichen Raum zu nutzen, äußerst anschaulich
So wie bionische Architektur, oder abweisende Oberflächen den Benutzer zur Performativität konditionieren sollen, entspricht die hier zum Zuge kommende Selbstregulierung der Ideologie und dem Arbeitsethos des neuen Kapitalismus, zeigt er sich nun durch flexibilisierte Work/Life Balance, verflachte Hierarchien in der Betriebsorganisation, oder aber durch Motivationsseminare, Professionalisierungen, Umschulungen und lebenslanges Lernen. Stets hat Mensch, wobei es gleichgültig ist ob werktätig oder nicht, in Bewegung zu bleiben. Es gilt sich den Dynamiken einer beschleunigten Welt zu fügen, und zwar klassenübergreifend: Die neuen Schalensitze in der Berliner U-Bahn, setzen den Standard der ehemaligen dritten Fahrzeugklasse auf die Gesamtheit der Nutzer. Sie behaupten eine klassenlose Gesellschaft. Und sie vereinen den Standard spätkapitalistischen Lebensgefühls mit verschlanktem Sitzkomfort: Haltlosigkeit.